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Faktencheck

Hat das europäische Fischereimanagement systematisch versagt?

Christopher Zimmermann, Gerd Kraus, Alexander Kempf | 05.08.2025


OF Institut für Ostseefischerei
SF Institut für Seefischerei

Ein Meinungs-Artikel im Magazin Science behauptet: Der schlechte Zustand der Ostsee-Fischbestände liegt an einem systematischen Versagen des Fischereimanagements, zu dem auch das wissenschaftliche Beratungssystem mit den nationalen Fischereiforschungseinrichtungen und dem Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES) gehört. Was ist von dieser Kritik zu halten? 

Statt sich weiter auf die etablierten Systeme zu verlassen, schlägt die Gruppe von Wissenschaftler*innen um den Kieler Erstautoren Rainer Froese in dem Science-Artikel  vor, dass eine von der Politik unabhängige Gruppe aus Forschenden wesentliche Teile des Fischereimanagements übernehmen sollte. Damit solle gewährleistet werden, dass ökosystembasierte Obergrenzen für Fangmengen festgesetzt werden, an denen die Politik nicht mehr rütteln kann. Ist dies ein probater Lösungsvorschlag?

Für ihren Meinungsbeitrag „Systemic failure of European fisheries management“ hat sich das Autorenteam um den Kieler Wissenschaftler Rainer Froese einige Beispiele für das Management von Fischbeständen in der EU herausgesucht. Prominentestes Beispiel ist die westliche Ostsee, vor allem Hering und Dorsch. Die Forschenden versuchen zu zeigen, dass der ICES Jahr für Jahr zu hohe Fangmengen-Empfehlungen an die Europäischen Kommission übermittelt habe. Grund dafür sei ein Fehler im System der Berechnungen, der letztlich eine der Ursachen für das Scheitern des europäischen Fischereimanagements sei. Die ICES-Fangempfehlungen kämen zudem nicht unabhängig von politischem Einfluss zustande, eine hohe Fangempfehlung sei im Interesse der Politik.
 

Wiederholte Angriffe auf den ICES

Der ICES ist eine weisungsunabhängige, zwischenstaatliche Einrichtung auf Basis einer Internationalen Konvention, die auch Nicht-EU-Mitglieder wie Kanada, USA, Island und Norwegen umfasst. Das Fischereimanagement dieser Länder gilt global als fortschrittlich und nachhaltig. Deren Regierungen lassen sich zumindest teilweise in Fischereifragen ebenfalls vom ICES beraten. 

Um die Unabhängigkeit und Belastbarkeit seiner Empfehlungen sicherzustellen, folgt der ICES in seiner Arbeit zehn sorgfältig gewählten Prinzipien. Die Regeln fordern etwa die Verwendung der besten verfügbaren Daten und Erkenntnisse ebenso wie umfassende und unzweideutige Empfehlungen. Die Ergebnisse der Arbeit der wissenschaftlichen Arbeitsgruppen werden, wie in der Wissenschaft üblich, unabhängig begutachtet („peer reviewed“). Dabei wird in jeder Stufe der Entwicklung einer Empfehlung sichergestellt, dass auch solche Wissenschaftler*innen bei der Erarbeitung vertreten sind, deren Nationen keinerlei spezifische Fischereiinteressen in den behandelten Regionen haben. In der Ostseegruppe wirken beispielsweise regelmäßig Forschende aus den USA, Island oder Irland mit. Der ICES liefert – trotz erheblicher Unsicherheiten in der Vorhersage – seit 120 Jahren den weltweit anerkannten wissenschaftlichen Rat als Grundlage für das Fischereimanagement. Froese diskreditiert dagegen die Arbeit des ICES immer wieder, ohne jedoch belastbare Belege zu liefern. 

Ist das Beispiel Ostsee gut gewählt?

Nach einer langen Phase der Überfischung beeinflussen die Ostsee heute vor allem andere menschgemachte Stressoren. Die für die Umweltüberwachung des Meeres zuständige Helsinki-Kommission etwa nennt seit vielen Jahren als mit Abstand wichtigste Einflussgröße für den Zustand des Ökosystems die zunehmende Eutrophierung, also Überdüngung. Es folgen Klimawandel, Verschmutzung und Überfischung. Die Faktoren verstärken sich teilweise gegenseitig. Insbesondere Erwärmung und zu hohe Nährstoffkonzentrationen führen zu einer Ausdehnung sauerstoffarmer oder sogar sauerstofffreier Gebiete in den tieferen Regionen der Ostsee, inzwischen auch in der westlichen Ostsee. Diese Entwicklung hat erhebliche Auswirkungen auf die Verbreitung, die Nahrung und den Lebensraum der Fische. Außerdem nehmen wichtige Räuberarten wie Kegelrobbe und Kormoran sowie Parasiten zu. Das Problem: Diese Faktoren ändern sich aktuell schneller als je zuvor. Die Modelle für Zustandsberechnungen können diese Veränderungen nicht mehr vorhersagen. Die Folge: In den Bestandsmodellen werden häufiger zu optimistische Vorhersagen nachhaltiger Fangmengen getroffen als zu pessimistische. Denn Wissenschaft kann nur aus den Beobachtungen der Vergangenheit auf die Zukunft schließen. Alles andere ist Wahrsagerei. Jahre später kann man die Annahmen zur künftigen Entwicklung dann rückschauend als vorsätzlich zu optimistisch kritisieren – und richtig, aus dieser Warte waren sie zu optimistisch, aber eben nicht vorsätzlich.

Der ICES hat darauf 2020 reagiert. Seither sind Maßnahmen zur Korrektur systematischer Abweichungen Teil der Bestandsberechnungen und Vorhersagen. Annahmen und Unsicherheiten werden transparent kommuniziert. In der Konsequenz hat etwa der EU-Ministerrat unter Berücksichtigung dieser Unsicherheiten niedrigere Fangmengen als von der Wissenschaft empfohlen festgesetzt. So geschehen zum Beispiel beim Dorsch der westlichen Ostsee in den Jahren 2020 bis 2023. Danach wurde die gerichtete Fischerei ganz geschlossen.

Trotz aller schwer zu prognostizierenden Faktoren, die zum Teil chaotisch wechselwirken, ist es gelungen, den Fischereidruck über die vergangenen zehn Jahre so stark abzusenken, dass der Einfluss der Fischerei für die Bestandsentwicklungen von Dorsch und Hering in der westlichen Ostsee heute keine Rolle mehr spielt (siehe Abbildung). 

Die von den Kieler Autor*innen behauptete systematische Überschätzung der Bestandsgrößen in den ICES-Berechnungen hält auch an anderer Stelle einer Überprüfung kaum stand. So wurden 2025 die Vorhersagen von 63 vom ICES begutachteten Beständen mit analytischer Bestandsberechnung analysiert. Die Abweichung von vorhergesagter und im folgenden Jahr festgestellter Laicherbiomasse betrug im Mittel drei Prozent.

Taugen historische Werte als Bezugsgröße?

Im Science-Beitrag vergleichen die Autor*innen die derzeitigen Fänge aus der westlichen Ostsee mit der aus ihrer Sicht möglichen maximalen nachhaltigen Fangmenge (maximum sustainable yield, MSY). Sie wählen für ihren Ansatz den Zeitraum 2003 bis 2022 und identifizieren die größte Anlandung von 97.548 Tonnen im Jahr 2004. In dieser Zeit wurden allerdings zahlreiche Bestände überfischt. Die Fangmengen waren also schon damals nicht nachhaltig und führten zur Abnahme der Bestände. Sicher ist auch: So hohe Fangmengen werden in absehbarer Zukunft aufgrund der veränderten Umweltbedingungen und der dadurch verringerten Produktivität nicht mehr erreicht werden können. Das Autorenteam trifft also wider besseres Wissen genau die Annahmen, die sie dem ICES als zu optimistisch vorwerfen. Dabei weisen sie in anderen Veröffentlichungen selbst darauf hin, dass Ökosysteme nicht statisch sind und Referenzwerte daher sorgfältig an geänderte Parameter angepasst werden müssen. Dies betrifft den erzielbaren nachhaltigen Dauerertrag (MSY) ebenso wie Zielwerte für die Biomasse (Bmsy) oder Grenzwerte für den Fischereidruck (Fmsy).

Hat das EU-Fischereimanagement versagt?

Im Science-Beitrag wird behauptet, dass das europäische Fischereimanagement versagt hat. Um dies einordnen zu können, muss man sich die Aufgaben des Fischereimanagements ansehen: Die Wichtigste ist es, den Fischereidruck (F) auf ein nachhaltiges Maß zu reduzieren, denn nur so kann die Biomasse anwachsen und den maximalen Dauerertrag (MSY) liefern. Dieser ist in der EU und in vielen anderen Regionen der Welt erklärtes Ziel einer nachhaltigen Bewirtschaftung. Dieses Ziel ist noch nicht für alle Bestände der EU erreicht. Aber die Tendenz ist eindeutig positiv. Die Anzahl der Fischbestände in EU-Gewässern des Nordatlantiks, die überfischt werden (F > FMSY), hat sich von knapp 75 Prozent im Jahr 2004 auf nahezu 20 Prozent im Jahr 2023 reduziert. Dass das Ziel, alle Bestände nach dem Prinzip des maximalen Dauerertrags zu befischen, nicht wie geplant 2020 erreicht wurde, kann man kritisieren. Von systematischem Versagen zu sprechen, ignoriert jedoch die enormen Fortschritte. 

Sollten Wissenschaftler*innen die Quoten festlegen?

Die Geomar-Forschenden präsentieren in ihrem Beitrag einen vergleichsweise einfachen Lösungsvorschlag: In der EU sollen ökosystembasierte Limits für Höchstfangmengen durch eine unabhängige Wissenschaftsinstitution berechnet werden. Diese Limits dürften dann von der Politik nicht überschritten werden. Was diese Forderung konkret bedeutet, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um als unabhängig zu gelten, wer dieses Gremium einsetzt und die Mitglieder beruft, bleibt offen. Vor allem aber ist der Unterschied zum derzeitigen Ansatz nicht klar, denn eine solche unabhängige wissenschaftliche Einrichtung gibt es bereits: eben den Internationalen Rat für Meeresforschung, ICES, der im Konsensprinzip auf der Basis guter und verantwortlicher Wissenschaft und in kontroversen Diskussionen jedes Jahr die Bewirtschaftungsempfehlungen erarbeitet. Die Analysen und Empfehlungen schließen Referenzpunkte für Biomasse und Fischereidruck ein, die im Zusammenhang mit vom EU-Parlament beschlossenen Mehrjahres-Bewirtschaftungsplänen sogar verbindlich sind. Dennoch hat der Ministerrat die Möglichkeit, unter bestimmten Umständen von der wissenschaftlichen Empfehlung abzuweichen. Und das ist gut so, weil der Vorschlag der Kieler Forschenden aus unserer Sicht undemokratisch ist: Eine wissenschaftliche Institution ist nicht durch Wahlen legitimiert. Außerdem gibt es auf viele zentrale Entscheidungen im Fischereimanagement keine wissenschaftlichen Antworten: Wollen wir ein Sprotten- oder ein Dorsch-dominiertes Ökosystem in der Ostsee? Akzeptieren wir längere Erholungszeiträume für überfischte Bestände, um damit mehr Fischereibetrieben das Überleben zu ermöglichen oder wollen wir das Gegenteil? Politikberatende Wissenschaft bietet daher Optionen an, aber sie trifft keine Entscheidungen. Dies obliegt einzig demokratisch legitimierten politischen Institutionen. 

Weitere Informationen

Froese R, Steiner N, Papaioannou E, MacNeil L, Reusch TBH, Scotti M (2025) Systemic failure of European fisheries management. Science 22 May 2025: 826–828

Lordan et al 2025 ICES response to: Systemic failure of European fisheries management. eLetter to Science 17.07.2025: 

Scotti M, Opitz S, MacNeil L, Kreutle A, Pusch C, Froese R (2022) Ecosystem-based fisheries management increases catch and carbon sequestration through recovery of exploited stocks: The western Baltic Sea case study. Front. Mar. Sci., 05 October 2022, https://doi.org/10.3389/fmars.2022.879998

Guide to ICES advisory framework and principles

Baltic Sea Ecoregion - Fisheries Overview

State of the Baltic Sea 2023

Ecosystem-based fisheries management increases catch and carbon sequestration through recovery of exploited stocks: The western Baltic Sea case study

Scientific Technical and Economic Committee for Fischeries (STECF)

 

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