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Expertise

Weniger Aale als geschätzt

Marko Freese | 11.12.2023


FI Intstitut für Fischereiökologie

Der Europäische Aal ist stark bedroht. Erklärtes Ziel der EU ist daher, dass mehr Aale aus unseren Gewässern abwandern, um sich fortpflanzen zu können. Dies empirisch zu erfassen ist allerdings aufwendig und beruht oft auf modellierten Schätzungen. Doch wie realistisch sind die Annahmen?

Der Europäische Aal verbringt den Großteil seines Lebens als sogenannter Gelbaal in Binnen- und Küstengewässern. Erst gegen Ende seines Lebens begibt er sich als fortpflanzungsbereiter Blankaal auf eine lange Reise in die Sargassosee im Nordwestatlantik, um zu laichen und damit den Kreislauf des Lebens zu schließen. In den letzten Jahrzehnten ist das Aufkommen an Jungfischen, den Glasaalen, an Europas Küsten stellenweise um mehr als 99 % eingebrochen. Deshalb haben die EU und ihre Mitgliedstaaten Maßnahmen beschlossen, um die Situation zu verbessern.

Das zentrale Element der Europäischen Aal-Verordnung mit dem Ziel einer Wiederauffüllung des Bestandes ist es, die Anzahl der abwandernden Blankaale aus Binnen- und Küstengewässern zu erhöhen. Damit soll die effektive Menge von Elterntieren erhöht und in Folge das Glasaalaufkommen gesteigert werden. Weil aber nicht überall exakt empirisch erfasst werden kann, wie viele Blankaale tatsächlich abwandern, wurden Modelle entworfen, die anhand gewisser Eingangsparameter Schätzwerte generieren.

In den deutschen Flussgebietseinheiten wird das German Eel Model IIIc (GEM) verwendet, ein demografisches Modell, das ausgehend von Daten zu natürlicher Rekrutierung und Besatz von Jungaalen, natürlichen und anthropogenen Sterblichkeiten sowie Wachstum und altersabhängigen Abwanderungsraten die theoretische Produktion von Blankaalen in einem Flussgebiet errechnet. Das Problem: Die Eingangsparameter sind oft mit erheblichen Unsicherheiten behaftet und beeinflussen das Ergebnis der Modellberechnungen naturgemäß stark, was zu signifikanten Abweichungen von der tatsächlichen Anzahl abwandernder Aale und damit einer falschen Einschätzung der Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen führen kann. Gemeinsam mit dem LAVES in Niedersachsen hat das Thünen-Institut daher im Projekt BALANCE zwei Jahre lang die Aal-Abwanderung aus der Ems in enger Zusammenarbeit mit einem Berufsfischer erhoben und den Modellschätzungen gegenübergestellt.

329 besenderte Aale

Die Datenerhebung erfolgte anhand einer Fang-Wiederfang-Methode, kombiniert mit einer Telemetrie-Studie. Hierzu installierten die Wissenschaftler ein Empfängernetzwerk in der Ems, statteten 329 Blankaale mit kleinen Akustiksendern aus und setzten sie oberhalb der Fangstelle wieder aus. Durch das Verhältnis von markierten zu unmarkierten Fischen im Fanggerät konnte die Gesamtabwanderung im Beobachtungsgebiet errechnet werden. Das Netzwerk akustischer Empfänger im Flusssystem registrierte zudem die vorbeischwimmenden markierten Fische, um die Aussagekraft der Fang-Wiederfang-Methode weiter zu erhöhen. Zusätzlich lieferte das Netzwerk Informationen zu Verhalten, Wanderroute und Wandergeschwindigkeit der Tiere.

Nach zwei Jahren konnten insgesamt 4.630 Aale in der untersuchten Fangstelle am Unterlauf der Ems gefangen und von diesen knapp 2.500 Tiere als abwandernde Blankaale klassifiziert werden. Die so generierten Aussagen zur Blankaalabwanderung aus der Ems stellten die Wissenschaftler den GEM-Modellvorhersagen für die Ems gegenüber.

Modell überschätzt tatsächliche Aalabwanderung

Das Forschungsprojekt lieferte auch für die Diskussion um Schonzeiten für den Aal wertvolle Erkenntnisse: Die Hauptabwanderungszeit der Blankaale erstreckte sich 2020/2021 von Mitte September bis Ende Januar und 2021/22 von Mitte September bis Februar. Der Beginn der Abwanderung korrelierte dabei mit sinkenden Temperaturen und zunehmender Ablaufmenge von Regenwasser im Herbst, wobei insbesondere die Strömungsgeschwindigkeit eine wichtige Rolle in der Abwanderungsdynamik spielte.

Die zentrale Erkenntnis des Projekts ist jedoch alarmierend: Die tatsächliche Abwanderung von Blankaalen aus der Ems ist deutlich niedriger als angenommen. Die erhobenen Abwanderungszahlen erreichen nur 17 Prozent der Werte, die das GEM für dasselbe Gebiet berechnete. Die modellierte Schätzung übersteigt die reale Abwanderung also ungefähr um das Sechsfache. Ein systematischer Fehler bei der Auswahl der Eingangsparameter und/oder fehlerhafte Annahmen des Modells an sich sind dafür mögliche Erklärungen. Für die bessere Umsetzung des deutschen Aalmanagements ergibt sich aus Sicht der Thünen-Forscher deshalb die dringende Empfehlung, die modellierten GEM-Ergebnisse auch für andere relevante Gewässer zu validieren.

Bereits in vorangegangenen Evaluierungen des GEMs und anderer demografischer Modelle wurde die Abwanderung von Aalen häufig überschätzt. Dies wirft die Frage auf, ob diese Art von Modellen geeignet ist, die biologische Realität lokaler Bestände in komplexen Lebensräumen wie Flusssystemen akkurat genug abzubilden. Das Thünen-Institut forscht daher gemeinsam mit internationalen Partnern weiter an Lösungen, um geeignete Daten für eine präzise Bestandserfassung und damit ein bestmögliches Management dieser ökologisch wie ökonomisch wichtigen Fischart zu ermöglichen.

Service zum Download

  • BALANCE-AbschlussberichtBlankaalabwanderung in der niedersächsischen Ems: Quantitative Untersuchungen zur Verbesserung von Management, Bewirtschaftung und Schutz des Europäischen Aals 6 MB

Quelle

Der Artikel „Weniger Aale als geschätzt" ist im Dezember 2023 im Thünen-Magazin Wissenschaft erleben 2023/2 erschienen (Seite 4/5).

Weiterführende Publikationen

  1. 0

    Höhne L, Pohlmann J-D, Freese M (2023) Minimally invasive collection of biometric data including maturation stage on European Eel using photography. Mar Coastal Fish 15(2):e10239, DOI:10.1002/mcf2.10239

    https://literatur.thuenen.de/digbib_extern/dn066281.pdf

  2. 1

    Höhne L, Freese M, Pohlmann J-D, Diekmann M, Fladung E, Huisman JBJ, Hanel R, Marohn L (2023) Overestimating management progress - modelled vs. monitored silver eel escapement in a North Sea draining river. ICES J Mar Sci 80(7):1936-1948, DOI:10.1093/icesjms/fsad122

    https://literatur.thuenen.de/digbib_extern/dn066674.pdf

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