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Kontroverse

Braucht die westliche Ostsee eine andere Bewirtschaftung?

Christopher Zimmermann, Nadine Kraft | 22.11.2022


OF Institut für Ostseefischerei
PB Pressestelle

Würde die Bewirtschaftung der westlichen Ostsee auf ein ökosystembasiertes Fischereimanagement umgestellt, könnten sich die Fischbestände und die Schweinswalpopulation bis 2050 erholen und stabilisieren. Der derzeit verwendete Bewirtschaftungsansatz der EU hingegen trägt nur zu einer weiteren Verschlechterung der Situation bei. Das ist das Ergebnis einer Veröffentlichung einer Autorengruppe vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung und vom Bundesamt für Naturschutz  vom Oktober 2022. Wie tauglich ist der vorgeschlagene Management-Ansatz?

Ein Autorenteam des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel und des Bundesamtes für Naturschutz hat in einer aktuellen Veröffentlichung (1) ein trophisches, also auf den Nahrungsketten basierendes, Modell der westlichen Ostsee vorgelegt. Es dient als Grundlage für einen von ihnen vorgeschlagenen neuen Fischereimanagement-Ansatz, der an Stelle des bisherigen in der Ostsee angewendet werden sollte.

Die Implementierung des Modells ist eine beeindruckende Leistung. Der gewählte Ansatz indes ist für den Vergleich der verschiedenen Bewirtschaftungsansätze für Meeresfischbestände untauglich. Zudem zeigt sich, dass im direkten Vergleich des vorgeschlagenen ökosystembasierten Fischereimanagements (Ecosystem-Based Fisheries Management (EBFM) mit dem derzeit gesetzlich vorgeschriebenen Managementansatz, dem maximalen nachhaltigen Dauerertrag (Maximum Sustainable Yield, MSY), kaum Verbesserungen bei den Bestandszuständen erzielt werden. Gleichzeitig kann aber bei Anwendung des EBFM viel weniger Fisch entnommen werden.

1. Das Modell

Die Autor*innen haben große Mengen von Einzelinformationen zusammengetragen. Damit haben sie erstmals die Nahrungsflüsse für das gesamte Ökosystem der westlichen Ostsee modelliert. Diese Fleißarbeit kann zu einem besseren Verständnis des Ökosystems und zu den Auswirkungen der Fischerei beitragen.

Für die Modellierung ihrer Daten nutzen die Autor*innen die Software „Ecosim with Ecopath“ (EwE). Diese Anwendung ist zwar etabliert und wird auch für aquatische Ökosysteme eingesetzt, hat jedoch Grenzen (2): „Ecopath“ basiert auf Bilanzgleichungen, erfordert also, dass das jeweilige Ökosystem als weitgehend abgeschlossen betrachtet wird. Das bedeutet beispielsweise, dass die Tiere ihre Nahrung ausschließlich in diesem Gebiet aufnehmen. Für ein kleines und mit den Nachbargebieten durch Ein- und Ausstrom sowie Wanderungen der Tiere eng verbundenes Ökosystem wie die westliche Ostsee ist diese Einschränkung allerdings problematisch. Ein Beispiel: Der Hering der westlichen Ostsee wird von den Autor*innen als eine der Schlüsselarten identifiziert. Im Sommer wandern die Fische jedoch in Kattegat, Skagerrak und die östliche Nordsee, um dort zu fressen. Mit ihrer Rückkehr in die westliche Ostsee während der Wintermonate importieren sie also massiv Energie in dieses System. Soweit erkennbar, wird dieser wesentliche Fakt im Modell jedoch weder berücksichtigt noch in der Veröffentlichung diskutiert, obwohl er signifikanten Einfluss auf die Ergebnisse haben dürfte. Andere fragwürdige Festlegungen im Modell sind die Definition des Sprottenbestandes im betrachteten Gebiet, die Definition juveniler, also nicht geschlechtsreifer Dorsche, und die Annahme, dass der Fischereiaufwand immer gleichbleibt, selbst wenn die Fangmengen drastisch sinken. Die Annahmen zu den Nahrungsbeziehungen im Modell sind also ebenso wenig glaubwürdig wie wichtige Eingangsdaten.

2. Vergleich der Fischerei-Bewirtschaftungsansätze

Statt nur das Modell und die Grenzen seiner Nutzbarkeit zu publizieren, nutzen die Autor*innen das Modell, um verschiedene Fischereimanagement-Ansätze miteinander zu vergleichen. Sie bringen dafür einen eigenen Bewirtschaftungsansatz ins Spiel, den sie Ecosystem-Based Fisheries Management (EBFM) nennen. Sie empfehlen, diesen Ansatz künftig für die Fischbestände der westlichen Ostsee zu nutzen. Der Grund: Nur dadurch könnten sich die schrumpfenden Bestände etwa von Dorsch und Hering, aber auch des Schweinswals im Gebiet erholen.

Der Vergleich ist jedoch aus mehreren Gründen untauglich: Verglichen wird vor allem mit dem sogenannten Business as Usual-Ansatz (BAU), der vermeintlich von der EU angewendet wird. Dieser BAU-Ansatz existiert aber gar nicht. Vielmehr werden Fischbestände in der EU nach dem Ansatz des Maximum Sustainable Yield (MSY, maximaler nachhaltiger Dauerertrag) bewirtschaftet. Für den BAU-Ansatz berechnen die Autor*innen den Mittelwert der fischereilichen Sterblichkeit für die Jahre 2015 bis 2019 und schreiben diesen für die Zukunft fort. Seit 2015 ist die fischereiliche Sterblichkeit aller wesentlichen kommerziell genutzten Fischarten der westlichen Ostsee jedoch deutlich gesunken. Für den Heringsbestand der westlichen Ostsee wurde sie inzwischen halbiert, für Dorsch wurden alle gezielten Fischereien eingestellt. Das BAU-Szenario gibt also weder den aktuellen noch den angestrebten Bewirtschaftungsansatz wieder, sondern einen aus der Zeit, als auch für die westliche Ostsee die Fangmengen viel zu hoch festgesetzt waren. Würden die aktuellen (2022) fischereilichen Sterblichkeiten als BAU verwendet, entspräche der Erholungszeitraum ungefähr dem des EBFM-Ansatzes.

Auch ist der EBFM-Ansatz der Autor*innen kein eingeführtes, auf objektiven Kriterien oder auf wissenschaftlichem Konsens beruhendes Szenario. Vielmehr wurde die angestrebte fischereiliche Sterblichkeit (FMSY) willkürlich stark reduziert.

Es erstaunt, dass die Autor*innen vor allem den BAU- und den EBFM-Ansatz miteinander verglichen haben und nicht den EBFM- und den MSY-Ansatz als gesetzlich festgelegtem Konzept der EU. Zusätzlich gäbe es auch den Bewirtschaftungsansatz des Internationalen Rates für Meeresforschung (ICES) (3). Diese für die Fangempfehlungen an die EU-Kommission maßgebliche Einrichtung verwendet das Pretty Good Yield-Konzept (PGY-Konzept) (4): Damit werden Bereiche der fischereilichen Sterblichkeit berechnet, die 95 Prozent des maximalen nachhaltigen Dauerertrages ermöglichen. Statt Äpfel mit Birnen zu vergleichen – also ein vorausschauendes, theoretisches Konzept mit der zurückschauenden Realität – wäre durchaus ein Vergleich von Äpfeln mit Äpfeln möglich gewesen. Interessanterweise zeigen die Ergebnisse der Autor*innen selbst, dass sich die modellierten Erholungszeiträume und Gleichgewichts-Biomassen für die Jahre 2050 und 2100 zwischen MSY- und EBFM-Ansatz kaum unterscheiden. Natürlich ist die Erkenntnis trivial, dass bei viel geringerem Fischereidruck die Biomassen etwas höher sind; dafür sind die Fischereierträge im EBFM-Ansatz deutlich geringer.

3. Der Schweinswal

Lediglich für die Entwicklung der Schweinswale ist ein Vorteil des EBFM-Ansatzes erkennbar. Die Ergebnisse für diese Art sind aber wenig glaubwürdig. Das hat mehrere Gründe:
Die Autor*innen gehen davon aus, dass die Schweinswale in der westlichen Ostsee leben und sich zu 30 Prozent von juvenilen Dorschen ernähren. Da es in diesem Gebiet aber nicht genug junge Dorsche gibt, müssen sie annehmen, dass die fehlende Nahrung außerhalb dieses Gebietes gefressen wird. Sonst funktioniert das Modell nicht. Diese Annahme widerspricht den wissenschaftlichen Erkenntnissen: Schweinswale müssen nahezu ununterbrochen fressen, um ihren Energiebedarf zu decken (5). Sie würden verhungern, wenn sie immer wieder in ein nahrungsärmeres Gebiet zurückwandern würden. Zudem sind Schweinswale Nahrungsopportunisten, sie fressen, was verfügbar ist (6). Gibt es weniger Dorsch, nehmen sie Hering. Gibt es weniger Hering, fressen sie andere Fischarten.

Scotti et al. diskutieren zu Recht, dass die Datenlage für Schweinswale insbesondere im Vergleich zu den Seevögeln so dürftig ist, dass man diese Art mit den übrigen Meeressäugern in einer Gruppe hätte vereinen sollen. Da die Art jedoch in der Öffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit erfährt und im Fokus der Schutzanstrengungen und Fischereibeschränkungen liegt, wurde sie getrennt betrachtet. Die Ergebnisse werden dadurch aber leider nicht belastbarer, sondern spekulativer.

Schließlich ist auch die Abgrenzung der Schweinswalpopulationen verwirrend bis falsch: An einer Stelle der Veröffentlichung wird behauptet, die Schweinswalpopulation der westlichen Ostsee sei vom Aussterben bedroht und könnte sich nur erhalten, weil es einen Zustrom von Tieren aus der Beltsee-Population gäbe. Diese Darstellung widerspräche erstens der Definition getrennter Populationen. Zweitens ist sie falsch, denn die Tiere in der westlichen Ostsee gehören überwiegend zur Beltsee-Population (7). Die Schweinswale der westlichen Ostsee sind – anders als die der zentralen Ostsee, die im Winter auch in den östlichen Teilen der westlichen Ostsee vorkommen – übrigens nicht akut vom Aussterben bedroht (8).

4. Kohlenstoffsequestrierung

Last but not least wird als wichtiges Argument für das erdachte EBFM die zusätzliche Speicherung von klimaschädlichem Kohlenstoff angeführt. Die Gleichung der Autor*innen ist relativ einfach: Mehr Tiere fressen mehr und produzieren damit mehr Fäkalien. Diese landen als partikuläre Kohlenstoffverbindungen am Meeresboden und werden dort dauerhaft gebunden. Das Problem: Was für die Tiefsee gilt, gilt noch lange nicht für die Ostsee. Insbesondere die westliche Ostsee ist ein Flachwasser-Ökosystem, in dem sowohl Kohlenstoff (9) als auch Nährstoffe (10) kaum deponiert werden.

5. Fazit

So nützlich und beeindruckend die Zusammenstellung eines Ökosystemmodells für die westliche Ostsee durch Scotti et al. ist, so untauglich ist der gewählte Ansatz für einen belastbaren Vergleich der verschiedenen Bewirtschaftungsansätze für Meeresfischbestände. Denn gute wissenschaftliche Praxis erfordert einen Review des Modells und einen faktenbasierten Vergleich der Fischereimanagement-Optionen. Selbst in den Berechnungen der Autor*innen wird deutlich, dass sich im direkten Vergleich zwischen gesetzlich festgelegter derzeitiger Bewirtschaftung in der EU (MSY) und EBFM-Ansatz der Autor*innen gar kein eindeutiger Vorteil für das „neue“ System zeigt – bei allerdings viel geringeren Fischerträgen.

*Anmerkung: Wir haben am 2.12.2022 einen Satz im Fazit gelöscht, der offensichtlich missverstanden werden konnte.

Originalstudie

Scotti M, Opitz S, MacNeil L, Kreutle A, Pusch C, Froese R (2022) Ecosystem-based fisheries management increases catch and carbon sequestration through recovery of exploited stocks: The western Baltic Sea case study. Front. Mar. Sci., 05 October 2022, DOI:10.3389/fmars.2022.879998

  1. Scotti M, Opitz S, MacNeil L, Kreutle A, Pusch C, Froese R (2022) Ecosystem-based fisheries management increases catch and carbon sequestration through recovery of exploited stocks: The western Baltic Sea case study. Front. Mar. Sci., 05 October 2022, DOI:10.3389/fmars.2022.879998
  2. É. E. Plagányi & D. S. Butterworth (2004) A critical look at the potential of Ecopath with ecosim to assist in practical fisheries management, African Journal of Marine Science, 26:1, 261-287, DOI:10.2989/18142320409504061
  3. ICES (2020) ICES and Ecosystem-based management. ICES Strategy. DOI:10.17895/ices.pub.5466
  4. Hilborn R (2010) Pretty Good Yield and exploited fishes, Marine Policy 34 (1): 193-196, DOI:0.1016/j.marpol.2009.04.013
  5. Wisniewska, D. M., Johnson, M., Teilmann, J., Rojano-Donate, L., Shearer, J., Sveegaard, S., Miller, L. A., et al. 2016. Ultra-High Foraging Rates of Harbor Porpoises Make Them Vulnerable to Anthropogenic Disturbance. Curr Biol, 26: 1441–1446, DOI:10.1016/j.cub.2016.03.069
  6. Andreasen, H., Ross, S. D., Siebert, U., Andersen, N. G., Ronnenberg, K., and Gilles, A. 2017. Diet composition and food consumption rate of harbor porpoises (Phocoena phocoena) in the western Baltic Sea. Marine Mammal Science, 33: 1053–1079, DOI:10.1111/mms.12421
  7. Carlén, I., Thomas, L., Carlström, J., Amundin, M., Teilmann, J., Tregenza, N., Tougaard, J., et al. 2018. Basin-scale distribution of harbour porpoises in the Baltic Sea provides basis for effective conservation actions. Biological Conservation, 226: 42–53, DOI:10.1016/j.biocon.2018.06.031
  8. HELCOM Red List Marine Mammal Expert Group (2013)
  9. Blomqvist S, Larsson U (1994): Detrital bedrock elements as tracers of settling resuspended particulate matter in a coastal area of the Baltic Sea. Limnol. Oceanogr., 39 (4), pp. 880-896
  10. Savchuk OP (2018) Large-Scale Nutrient Dynamics in the Baltic Sea, 1970–2016. Front. Mar. Sci. 5:95. DOI:10.3389/fmars.2018.00095

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