Mit dem Ende des Vietnamkriegs 1975 und der Machtübernahme durch den Vietkong waren Repressionen und Vertreibungen zum Alltag in dem kriegsgebeutelten Land geworden. Rund anderthalb Millionen Vietnamesinnen und Vietnamesen wagten in der Folge die Flucht über das Meer. Sie sind als „Boatpeople“ in die Geschichte eingegangen. Etwa 40.000 von ihnen fanden in Deutschland Schutz. Eine der Geflüchteten war Thi Tu Uyen Tran, die Deutschland im Oktober 1980 erreichte. Die erste Station der damals Zwölfjährigen: das Grenzdurchgangslager Friedland in der Nähe von Braunschweig. Heute arbeitet sie als technische Assistentin für die Thünen-Institute für Betriebswirtschaft sowie für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen. An ihrem Arbeitsplatz bekam sie Mitte September Besuch von einem Filmteam des NDR. Im September erscheinen nun in einer Reportagereihe der Sendung “Hallo Niedersachsen” die Geschichten von Menschen wie Thi Tu Uyen Tran, die ihr Leben in Deutschland in Friedland begannen. Anlass ist der 80. Jahrestag der Gründung des einstigen Übergangslagers für Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg.
Programmieren für die Forschung
Wenn die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Thünen-Instituts für Betriebswirtschaft neue Auswertungen brauchen, wenden sie sich gerne an Thi Tu Uyen Tran. Die technische Assistentin für Informatik programmiert Anwendungen ‒ und zwar so, dass sie exakt die Berechnungen durchführen, die die Forschenden für ihre Arbeit benötigen. Für diese Datenaufbereitung nutzt sie die Programmiersprache SAS. All das macht Thi Tu Uyen Tran mit Leidenschaft. Sie sagt: „Mathe war mein Lieblingsfach und das mit dem Programmieren wird nie langweilig.“ Schon seit 21 Jahren begleitet die IT-Spezialistin die Forschung des Thünen-Instituts. Sie startete im Jahr 2004 bei der damaligen FAL. „Es war für mich ein Glücksfall, dass ich hier gelandet bin“, findet Tran. Sie interessiert sich für Wissenschaft, versteht sich gut mit ihren Kolleginnen und Kollegen und fühlt sich auf dem Thünen-Campus wohl.
Ein Neuanfang in Deutschland
Der Weg nach Braunschweig war für Thi Tu Uyen Tran jedoch alles andere als leicht. Schon in ihrer Kindheit rissen Krieg und Flucht ihre Familie entzwei. Mit nur zwölf Jahren machte sie sich praktisch allein auf die Flucht über das Meer. Ihre Mutter hatte das Mädchen einer befreundeten Familie anvertraut. Sie schickte das Kind in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland. Dort hatte bereits ihr Bruder Schutz gefunden. Zwar kam das Mädchen wohlbehalten in Deutschland an. Die Mutter schaffte es später nicht. Bei ihrem Fluchtversuch kam sie ums Leben. Ein schrecklicher Schicksalsschlag, den die Zwölfjährige ohne familiäre Unterstützung überwinden musste.
Nach ihrer Ankunft in Deutschland wurde Thi Tu Uyen Tran zunächst im Übergangslager Friedland untergebracht. „Ich war damals noch wie betäubt, weil das alles für mich neu war und ich zu dem Zeitpunkt noch nicht genau wusste, wo die Reise hingehen würde“, erinnert sie sich. Doch es war ein schönes Gefühl, in Sicherheit zu sein. Nach einem kurzen Aufenthalt in Friedland schickte man sie in die Christophorus-Schule in Braunschweig. Diese Zeit bezeichnet sie als eine ihrer schönsten Erinnerungen. Sie erzählt: „Es war mein Zuhause zusammen mit meinen Landsleuten, Mitschüler*innen, Betreuer*innen.“ Dort hat die heutige IT-Spezialistin auch ihr Abitur absolviert. Kurz danach heiratete sie und bekam zwei Kinder.
Leben mit Verlust und Zuversicht
Hinter der Erfolgsgeschichte aus gefundener Sicherheit, gelungener Integration und einem beispielhaften Lebenslauf stecken auch Gefühle und Zwiespalt. „Tief in meinem Herzen vermisse ich meine Heimat sehr. Manchmal weiß ich nicht genau, wo ich hingehöre“, erzählt Thi Tu Uyen Tran. Auch die Nähe ihrer Mutter vermisst sie noch immer. Doch sie bleibt stark, möchte kein Mitleid. Sie blickt immer nach vorne und macht aus jeder Situation das Beste. „Wenn ich stolpere, dann habe ich eine Erfahrung mehr gesammelt, damit ich es das nächste Mal richtig machen kann“, sagt sie. Sie ist dankbar, dass ihr in Deutschland eine Chance gegeben wurde. Doch besonders dankbar ist sie für ihre Familie ‒ ihre Kinder und ihr Mann. Sie sind für Thi Tu Uyen Tran das Wichtigste auf der Welt.
Friedland
Thi Tu Uyen Tran ist eine der rund viereinhalb Millionen Menschen, für die Friedland die erste Station in Deutschland war. Am 20. September 1945 öffnete das Grenzdurchgangslager im südlichen Niedersachsen erstmals seine Türen für Geflüchtete, ehemalige Kriegsgefangene und Heimatlose – zunächst provisorisch in den Viehställen des Versuchsgutes der Universität Göttingen. Nun begeht Friedland den 80. Jahrestag seines Bestehens. In einer Reportagereihe widmet sich der NDR der Geschichte des Grenzdurchgangslagers und seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Eine am 23. September erschienene Kurzreportage nimmt dabei auch den Lebensweg von Thi Tu Uyen Tran in den Blick. Der Film steht ab sofort in der Mediathek des NDR zur Verfügung.






