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Expertise

Tintenfische im Klimawandel

Daniel Oesterwind, Anne Sell | 26.07.2023


OF Institut für Ostseefischerei
SF Institut für Seefischerei

In vielen Regionen weltweit begünstigen ein Rückgang der Raubfische und der Temperaturanstieg der Meere ihre Populationsentwicklung. Auch in der Nordsee, traditionell nicht für große Tintenfischvorkommen bekannt, steigt ihre Biomasse an. Was bedeutet dies für die kommerziell genutzten Fischarten, und werden Tintenfische hier selbst zu einer fischereilichen Ressource?

Tintenfischen wurde in der Nordsee bisher eine untergeordnete Bedeutung beigemessen. Allerdings zeigen aktuelle Forschungsergebnisse aus den Thünen-Instituten für Ostseefischerei und für Seefischerei, dass sich verschiedene Arten in den letzten Jahren hier räumlich ausgebreiten und auch in ihren Biomassen stark zugenommen haben.
 

Tintenfische als Gewinner des Klimawandels

Tintenfische sind aufgrund ihres kurzen Lebenszyklus von ein bis zwei Jahren besonders anpassungsfähig. Die Forschungsergebnisse belegen, dass sich die Biodiversität und die Verbreitungsmuster einzelner Tintenfischarten in der Nordsee über das letzte Jahrhundert stark verändert haben. In einer vergleichenden Analyse mit historischen Berichten aus dem frühen 20. Jahrhundert zeigte sich, dass einige Arten, die damals nur zum Laichen oder zur Nahrungssuche in die Nordsee einwanderten, heute dauerhaft in der Nordsee leben. Dies gilt zum Beispiel für die Langflossenkalmare Loligo forbesii und Alloteuthis. Die heute ebenfalls ständig anwesenden Kurzflossenkalmare Todaropsis eblanae und Illex coindetii waren vor 100 Jahren nur als Irrgäste in der Nordsee beschrieben und pflanzen sich heute sogar hier fort, sodass sie hier jetzt eigene Nordseebestände etablieren können, wie die Wissenschaftler*innen des Thünen-Instituts nachweisen konnten.

Zwei Folgen des vermehrten Auftretens von Tintenfischen interessieren die Forscher besonders: Zum einen entwickelt sich eine intensivere und derzeit noch gänzlich unregulierte Befischung von Kalmaren in der Nordsee. Gleichzeitig gilt es zu verstehen, welche Veränderungen im Nahrungsnetz durch den steigenden Räuberdruck der Tintenfische entstehen.  

Kalmare als fischereiliche Ressource

Offizielle Meldungen aus der Fischerei dokumentieren für die Nordsee einen etwa dreifachen Anstieg der Tintenfischanlandungen in den letzten 40 Jahren. Zwar stellen sie hier im Vergleich zu den Fischen nur einen kleinen Teil der gezielt gefangenen Ressourcen, aber ihre Anlandungen erreichen inzwischen bis zu 3.000 Tonnen jährlich.

Auch die Nachfrage nach Tintenfischprodukten steigt; Nordseekalmare werden auch in einigen Restaurants bereits als Produkte der regionalen Küche angeboten. Tintenfische werden allerdings nicht unter der europäischen „Gemeinsamen Fischereipolitik“ geführt, so dass die Fischerei in der Nordsee bislang unreguliert ist. Aufgrund ihrer stetig zunehmenden Bedeutung als fischereiliche Ressource beteiligen sich die Thünen-Wissenschaftler*innen in internationalen Kooperationen an der Entwicklung eines nachhaltigen Fischerei-Managements für die europäischen Meere, auch in der Nordsee. Die kurze Lebensdauer dieser Wirbellosen führt zu besonderen Herausforderungen: Das fischereiliche Management muss so ausgelegt sein, dass es kurzfristig greifen kann. Zugleich zeigte sich, dass genetische Informationen allein nicht ausreichen, um Bestandsgrenzen aufzudecken. Es braucht eine Kombination von Genetik und biologischen Parametern, um Management-Einheiten für eine zukünftige Fangregulierung definieren zu können. Derzeit schätzen die Wissenschaftler*innen mit Hilfe alternativer Indikatoren, wie z. B. trendbasierten Einheitsfängen aus dem Monitoring und kommerziellen Anlandungszahlen, den Zustand der in der Nordsee lebenden Kalmare als wachsend ein.
 

Ökologische Folgen

Als reine Fleischfresser nehmen Tintenfische eine ökologische Nische ein, in der sie mit Raubfischen um Beute konkurrieren. Um zu erfahren, wie mit der beobachteten generellen Biomassenzunahme und der Etablierung des Kurzflossenkalmars Illex coindetii der von den Tintenfischen ausgeübte Fraßdruck in der Nordsee steigt, analysieren die Thünen-Wissenschaftler*innen deren Mageninhalte auf verschiedene Weise. Auch wenn sich klassische mikroskopische Mageninhaltsanalysen als schwierig erweisen, weil Tintenfische ihre Beute sofort zerkleinern, konnten sie anhand von Hartstrukturen, wie Wirbeln oder Gehörsteinchen der Fischbeute sowie Schnäbeln von Tintenfischen, zeigen, dass sich einige größere Kalmare sowohl von kommerziell genutzten Fischen wie Kabeljau, Wittling, Hering und Sprotte als auch kannibalisch ernähren.

Um die Biodiversität des Beutespektrums möglichst vollständig zu erfassen, kommt inzwischen genetisches Metabarcoding zum Einsatz. Damit werden die DNA-Spuren der gefressenen Tiere erfasst, auch wenn sie optisch im Magen nicht mehr erkennbar sind. Die Thünen-Forscher*innen konnten auf diese Weise zeigen, dass Individuen von Illex coindetii in der Nordsee nicht nur diverse andere Tintenfische wie Sepien und Loligo-Arten fressen, sondern auch eine Vielzahl von Fischen jagen, darunter insbesondere die Kabeljauverwandten Stintdorsch und Wittling, sowie Sprotten, Heringe und Sandaale, aber auch Makrelen und Holzmakrelen.

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