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Interview

„Bio im Dilemma“

Kathrin Rieck mit Heike Kuhnert, Marie von Meyer-Höfer und Georg Rieck | 29.09.2023


BW Institut für Betriebswirtschaft
MA Institut für Marktanalyse

Der Naturkostfachhandel verzeichnete in der Corona-Zeit ein Umsatzhoch, das aktuell aber hinter die Zahlen von 2019 zurückfällt, während die Umsätze von Bio-Produkten im Lebensmitteleinzelhandel (LEH) steigen. Das führt zu einem Bio-Dilemma: Die ökologischen Prinzipien, für die der Naturkostfachhandel im Besonderen einsteht, stehen im Kontrast zum vorherrschenden Marktsystem nach dem Prinzip „viel niedrigpreisig und bequem“. Kann Bio vor diesem Hintergrund bestehen oder sogar wachsen, ohne den Qualitätsanspruch aufzugeben? Darüber haben wir mit Ökolandbau-Expertin Heike Kuhnert (HK), Bioladeninhaber Georg Rieck (GR) und Marktforscherin Marie von Meyer-Höfer (MvH) diskutiert.

Unsere Interviewpartner*innen

Dr. Heike Kuhnert forscht am Thünen-Institut für Betriebswirtschaft und beantwortet Fragen rund um die Zukunft und Entwicklung des Ökolandbaus in Deutschland. Sie hat Agrarwirtschaft und Ökologische Umweltsicherung studiert.

Georg Rieck ist Mitbegründer, Geschäftsführer und Inhaber von Klatschmohn Naturkost GmbH in Gießen seit 40 Jahren. Der studierte Agrarwissenschaftler ist Mitglied im Ernährungsrat Gießen.

Dr. Marie von Meyer-Höfer forscht am Thünen-Institut für Marktanalyse im Bereich Gesellschaftliche Erwartungen und Konsumverhalten und ist beteiligt an laufenden Projekten wie z.B. „Auf dem Weg zu 30 Prozent Ökolandbau“.

Herr Rieck, erst zählten Sie als Bioladeninhaber zu den Gewinnern der Corona-Pandemie und jetzt sehen Sie sich auf der Verliererseite. Wie erleben Sie die aktuellen Ereignisse?

GR: Wir sind ein inhabergeführter Bioladen im hessischen Gießen der ersten Stunde, seit 1978. Wir konnten über die Jahre von 18 auf 400 qm² Verkaufsfläche anwachsen. Nach dem Umsatzhoch in der Corona-Zeit gingen die Umsätze auf das Niveau von 2019 zurück. Das können wir mit dem einfachen kaufmännischen Instrumentarium wie Kostensenkung, Abbau von Arbeitskräften und auch Preisanpassungen auffangen, auch weil wir keine Kreditbelastungen mehr haben. Viel schlimmer trifft es manche unserer Produzenten und Lieferanten, denn dort ist der fehlende Absatz der Produkte problematisch. Dazu haben viele auf Wachstum gebaut und müssen jetzt Produktionskapazitäten finanzieren, die nicht genutzt werden können.

MvMH: Aus ökonomischer Sicht, wenn man mal Einzelschicksale ausblendet, sind die Umsatzrückgänge im Bio-Bereich eigentlich nicht dramatisch. Aber weil es der ansonsten bisher in dieser Hinsicht eher verwöhnte Bio-Markt ist, wird der Umsatzrückgang in den Medien und in der öffentlichen Debatte um die Förderung der Bio-Branche als Drama verkauft.

HK: Ja, und neuen Zahlen nach gehen die Umsätze auch wieder hoch. Es ist spannend zu sehen, was am Ende des Jahres 2023 an Zahlen für die verschiedenen Absatzkanäle wie Naturkostgeschäfte, Hofläden und Lebensmitteleinzelhandel tatsächlich steht.

Worin besteht aus Ihrer Sicht das Bio-Dilemma?

GR: Ich meine, dass die Fokussierung auf CO2 den Blick verstellt auf für den Agrarsektor sehr bedeutsame, ökologische Probleme: allen voran der Rückgang der Biodiversität, Düngerüberschuss, Bodendegeneration oder Tierwohl. Dass wir im Mai oder Juni in der gesamten Gemarkung keine einzige Blüte auf der Fläche finden, ist die Folge moderner Bewirtschaftungsmethoden und ein sichtbares Zeichen für das Desaster. Der Markt zwingt die Betriebe in Größenordnungen und in die Methodik, in denen das Öko-System nicht mehr funktioniert, denn die Agrarökosysteme brauchen zwingend Kleinteiligkeit und Vielfalt. Wir Bioläden der alten Schule hatten es uns zur Aufgabe gemacht, die sehr erklärungsbedürftigen Produkte der ökologischen Landwirtschaft zu vermarkten, ihnen einen geschützten Raum zu bauen, in dem sie den harten Marktgesetzen weniger ausgesetzt sind. Dazu hatten wir ein alternatives Weltbild für die gesamte Lieferkette entwickelt, das den herrschenden Auffassungen stark entgegenstand. Auf diese Weise haben wir den Kunden ein alternatives Lebensgefühl vermittelt und mit den Produkten einen alternativen Lebensstil geformt. Dieses Lebensgefühl droht heute verloren zu gehen, weil es im anonymen Massenmarkt genauso wenig überdauern kann, wie die Insektenvielfalt auf der blütenlosen Fläche. Wenn die Masse der Verbraucher viel, billig und bequem wollen, ist das mit Bio nicht kompatibel!

MvMH: Bio-Güter sind informationsökonomisch Vertrauensgüter - ohne Hilfe hat der Konsument keine Information zum Entstehungsprozess des Apfels. Der Verbraucher braucht also eine glaubwürdige Kennzeichnung der Bio-Qualität, z.B. in Form eines Bio-Labels. Bio-Siegel unterliegen aber oft auch der Gefahr einen „Halo“- oder „Heiligenschein“-Effekt auszulösen, der dazu führt, dass Verbraucher alle möglichen positiven, wünschenswerten Eigenschaften in die Produkte mit Bio-Siegel hineininterpretieren, die die dahinterstehenden Standards nicht unbedingt abdecken. Bei Bio geht es um die ganzheitliche Nachhaltigkeit im System, nicht um Einzelaspekte wie „gesünder“ oder sowas. Und ein persönliches Dilemma steckt bei mir persönlich in dem Wissen als Marktforscherin, dass es einen riesigen Unterschied zwischen dem Wissen der Konsumenten und deren Kaufverhalten gibt.

HK: Also was ja ein Kernproblem ist: Seit dem Zweiten Weltkrieg leben wir in einer Marketing-geprägten Werbe- und Konsumgesellschaft – nach dem Vorbild der USA wird Marken ein möglichst positives Image verpasst. Aus Marketingsicht ist es daher wünschenswert, dass in Bio so viel Positives wie möglich hineininterpretiert wird. Und so nach und nach wird in den Medien diskutiert, dass auch Bio kein „Rundumsorglospaket“ ist. Ich bin unsicher, ob ehrliche Kommunikation funktionieren kann, denn die macht Bio eher kompliziert.

GR: Ich glaube nicht, dass Bio sein spezielles Versprechen, echt und authentisch zu sein, einhalten kann, wenn es mit hohlem Marketinggetöse vertreten wird. Ich als Einzelkämpfer kann das nur mit meiner Person füllen: Die Leute vertrauen mir, dass ich hinter den Produkten unten im Laden stehe. Echtheit und Authentizität sind zentrale Versprechen der Biobranche und Pfeiler der Glaubwürdigkeit! Und Bio wird niemals „unkompliziert“ für den "Viel-billig-bequem-Konsumenten" sein! Nur für die Leute, die sich bewusst für Bio als Lebensstil entschieden haben.

Wie kam es zu dem Dilemma?

GR: Jetzt in der Absatzkrise stehen viele Bio-Hersteller vor der Wahl: Entweder Insolvenz anmelden oder an den Lebensmitteleinzelhandel und Discount verkaufen – und damit in die Preisdruckfalle gehen. In meinen Augen sind die aktuell zu beobachtenden, eigentlich von der EU verbotenen, unlauteren Handelspraktiken, mit denen Discount und Lebensmitteleinzelhandel die unrealistisch niedrigen Preise erzwingen, entscheidend am ökologischen Desaster beteiligt.

HK: Eigentlich müsste man auch den Begriff „Bio-Branche“ erstmal definieren. Der gesamte Öko-Markt hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verändert. In einem Projekt zum Naturkostfachhandel haben wir festgestellt, dass der Fachhandel zunehmend von Bio-Supermärkten geprägt wird und es innerhalb des Fachhandels eine starke Konkurrenz gibt. Etwas plakativ könnte man von einer „Dennreesierung“ und „Alnaturasierung“ des Naturkostfachhandels sprechen. Es sind nicht nur die Discounter und der traditionelle Lebensmitteleinzelhandel, die den kleineren, inhabergeführten Bioläden das Wasser abgraben und mit den Öko-Erzeugern und Herstellern von Bio-Lebensmitteln hart verhandeln.


Also bleibt Bio eine „ewige Nische“?

GR: Mit zehn Prozent Marktanteil ist Bio zwar gewachsen, aber nach wie vor ganz klar eine Nische. Bio kann in der Glaubwürdigkeit nur das „Normale“ werden, wenn es gelingen würde, systemüberwindend zu werden. Wenn es im bestehenden System wachsen soll, würde ich sagen, dann kann man es vergessen. Dann würde ich sagen, dann soll die Politik sich lieber auf das „Gesamt-Greening“ der Landwirtschaft beschränken im Sinne der guten fachlichen Praxis, wie schon Urs Niggli meinte. Dann kommen wir dem Ziel, umweltverträglicher zu werden, viel einfacher näher.

MvMH: Das hat mich gerade auch sehr abgeholt. Ich würde gerne ein Wort miteinbringen, was es auf den Punkt bringt: Bio als Gegenentwurf zu konventionellem Landbau. Als solches ist es ja mal gestartet - als alternativer Wirtschafts- und Lebensentwurf. Das geht aber nur, wenn man das Agrar- UND das Ernährungssystem verändert und zwar nicht nur auf der Produktionsebene! Auch an der Nachfrage muss sich viel ändern.

HK: Die letzten zwanzig Jahre haben deutlich gezeigt, dass Bio alleine und die Fokussierung auf den 30 Prozent Flächenanteil die Probleme nicht lösen kann, ohne dass Weichen im System gestellt werden.
 

Blick in die Zukunft: Welche Weichen könnten im System pro Bio gestellt werden?

GR: Vielleicht könnte die Reregionalisierung eine Lösung bieten. Wir haben die Möglichkeit, als kleiner, unabhängiger Händler in kleinen Strukturen um die Stadt herum in einem regionalen Netzwerk zu agieren. Das wäre sinnvoll. Das Problem ist aber, dass es kaum noch eine Mühle, einen kleinen Schlachtbetrieb oder eine regionale Molkerei gibt. Diese Strukturen wieder aufzubauen wäre eine Jahrhundert-Aufgabe. Eine weitere Möglichkeit wäre die konsequente Umsteuerung dorthin mit der GAP. Dazu wäre allerdings der unbedingte politische Wille notwendig. Dann könnten die Maßnahmen aber die nötige Schubkraft entwickeln, vor allem, wenn die in den Regeln verankerte Bürgerbeteiligung propagiert und eingefordert würde.

HK: Ganz konkret würde ich mir mehr Verantwortung bei Konsumentscheidungen wünschen. Dass wir die Entscheidung „Wem gebe ich mein Geld“ gezielter und bewusster treffen. Eine kostenfreie Kitaernährung wäre für mich ebenso eine Weiche wie die Förderung von Ernährungsinitiativen im öffentlichen Raum von klein auf. Und es müsste öffentlich sichtbar noch viel mehr Entscheidungen für die Bio-Varianten geben. Der Hamburger Fußballverein St. Pauli macht es vor: Die Stadionwurst ist jetzt entweder vegan oder Bio. Über diese Themen könnten wir noch viele Stunden sprechen - ein Think-Tank zum Thema wäre eine gute Idee!

MvMH: Das fände ich auch! Ein gut moderierter gemeinsamer Austausch über die Zukunftsthemen der Agrar- und Ernährungsbranche gerade mit dem Fokus auf Bio mit allen Betroffenen und Beteiligten aus der Wertschöpfungskette inklusive Wissenschaft und Politik könnte sehr inspirierend sein. Vor allem, um neue regionale Strukturen aufzubauen und noch vorhandene zu stärken. Außerdem würde ich mir genau wie Heike Kuhnert wünschen, dass die bewusste Kaufentscheidung noch besser unterstützt würde. Zum Beispiel, wenn die Gründe für den Kauf von Bio noch klarer und verständlicher vermittelt werden würden.

Vielen Dank für das Gespräch.

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