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Expertise

„Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993, 2012“ – eine einzigartige Langzeitstudie

Annett Steinführer | 11.05.2022


LV Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen

Seit den 50er Jahren werden zehn westdeutsche Gemeinden regelmäßig untersucht, vier ostdeutsche Kommunen ergänzen die Langzeitstudie seit 1993. Längsschnittanalysen wie diese sind in der Sozialforschung sehr selten, denn Aufwand und Kosten sind hoch, und die Kontinuität kann nicht immer gewährleistet werden.

1952 wurde in Bonn die Forschungsgesellschaft für Agrarpolitik und Agrarsoziologie (FAA) mit dem Ziel gegründet, im agrarstrukturellen Wandel als Mittlerin zwischen Wissenschaft und Politik zu fungieren. Ihr zentrales Thema war die kleinbäuerliche Landwirtschaft und deren Beitrag für die Ernährungssicherung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Bundespolitik, die unter anderem in Person des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten selbst an Beratungen zum Forschungsprogramm der FAA beteiligt war, erwartete sich von den Untersuchungen Hinweise auf notwendige agrarsoziale Maßnahmen.


Für die erste Untersuchung der FAA wurden zehn Dörfer mit unterschiedlichen Agrar-, Betriebs- und Sozialstrukturen ausgewählt, um die Gegenwart kleinbäuerlicher Dörfer zu untersuchen und Zukunftskonzepte zu entwickeln. Manche dieser Dörfer waren vorab als „aktive“ (bzw. „dynamische“), andere als „passive“ (oder „Rückstands-“) Dörfer eingestuft worden. In einjährigen Studienaufenthalten vor Ort trugen sogenannte Ermittler (überwiegend selbst Landwirte und unter ihnen gerade eine Frau) zahlreiche Daten aus hauswirtschaftlicher, agrarökonomischer, familien- und dorfsoziologischer Perspektive zusammen.


Anfang der 1970er Jahre entstand die Idee, in die zehn Dörfer zurückzukehren und ihren Entwicklungsstand im Kontext allgemeinen gesellschaftlichen Wandels zu untersuchen. Erneut wurde diese Untersuchung von der FAA geleitet. Die Charakterisierung als „kleinbäuerlich“ wurde nun angesichts des fortgeschrittenen Strukturwandels der Landwirtschaft für nicht mehr zeitgemäß gehalten. Vielmehr hatten sich die Dörfer in ländliche Wohnsiedlungen verwandelt, und es waren Fragen der Abwanderung jüngerer Bevölkerungsgruppen und der (sozio-)demographischen Entwicklung, die dringlicher erschienen.


Diese Probleme galten auch in den Folgeuntersuchungen der 1990er und 2010er Jahre noch immer als vordringlich, wenngleich zunehmend die Vielgestaltigkeit dörflicher Entwicklungspfade in den Vordergrund trat. Vier ostdeutsche Dörfer vervollständigen das Sample seit der dritten Erhebung. 1993 blieb weiterhin die FAA zuständig, und nach deren Auflösung 2004 wurde das Thünen-Institut 2012 mit der Fortsetzung mit der Leitung der Studie – die in allen vier Untersuchungswellen stets ein Verbund unterschiedlicher Forschungsinstitute und Hochschulen darstellte – beauftragt.


Solche Längsschnittanalysen sind in der Sozialforschung sehr selten, denn Aufwand und Kosten sind hoch, und die Kontinuität von Forschungspersonal und -einrichtungen kann nicht immer gewährleistet werden. Es ist geplant, die Studie am Beginn der 2030er Jahre fortzusetzen.

Quellen und weiterführende Literatur

Becker H (1997) Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972 und 1993/95. Bonn.

Becker H, Tuitjer G (2019) 60 Jahre „Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel“ – wie eine Langzeitstudie entsteht. In: Steinführer A, Laschewski L, Mölders T, Siebert R (Hrsg.) Das Dorf. Soziale Prozesse und räumliche Arrangements. Berlin, 79-89.

BMEL [Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft] (Hg.) (2015) Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012. Redaktion: Thünen-Institut für Ländliche Räume und BMEL. Berlin.

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