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Expertise

Gemeindegebietsreformen

Annett Steinführer | 11.05.2022


LV Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen

Die Territorial- und hier insbesondere die Gemeindegebietsreformen der vergangenen Jahrzehnte haben Dörfer und Kleinstädte in ländlichen Räumen grundlegend verändert. Tausende Dörfer und nicht wenige kleinere Städte haben im Zuge großflächiger Veränderungen ihrer Gebietsstände die politische und administrative Eigenständigkeit verloren.

Ein geschultes Auge erkennt dies noch heute an Ortseingangsschildern, nicht nur in ländlichen Räumen. Da liest man beispielsweise „Lehndorf, Stadt Braunschweig“ oder „Alleringersleben, Gemeinde Ingersleben“ – das niedersächsische Lehndorf wurde bereits 1934 in die nahegelegene Großstadt eingemeindet, Alleringersleben im Rahmen der letzten großen Gebietsreform in Sachsen-Anhalt 2010. Ein (klein)städtisches Beispiel ist Heldrungen in Thüringen, das sich 2019 mit fünf umliegenden Gemeinden zur neuen Kleinstadt An der Schmücke zusammenschloss. Gleichzeitig entstehen auf diese Weise auch neue „Städte“ – dies hatte Hessen bereits in den 1960er Jahren etwa mit Baunatal, einem Zusammenschluss verschiedener Dörfer unter neuem Namen, praktiziert.

Die Hochphase der Gemeindegebietsreformen in der alten Bundesrepublik war in den späten 1960er und in den 1970er Jahren. Zwischen 1961 und 1980 sank die Zahl der Gemeinden in den acht Flächenländern um 65 Prozent (auf ca. 8.500). In der DDR nahm die Zahl der Gemeinden im gleichen Zeitraum lediglich um 18 Prozent (auf gut 7.500) ab. Nach der Wiedervereinigung und im Zuge des für die ostdeutschen Bundesländer angewendeten Paradigmas der „nachholenden“ Modernisierung schrumpfte die Zahl der Städte und Gemeinden in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zwischen 1990 und 2019 um etwa 68 Prozent (auf etwa 2.400). Die so entstandenen Gebietseinheiten sind im Vergleich der Bundesländer sehr unterschiedlich: So gibt es beispielsweise im Saarland keine Städte und Gemeinden mehr mit weniger als 5.000 Einwohnerinnen und Einwohnern – wohingegen in Rheinland-Pfalz und in Mecklenburg-Vorpommern 71 bzw. 67 Prozent aller Städte und Gemeinden weniger als 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner haben (Stand 2019).

Begründet wurden und werden Gebietsreformen auf Gemeinde- und Kreisebene häufig mit Argumenten der Verbesserung der kommunalen Leistungsfähigkeit und der Professionalisierung kommunaler Verwaltungen, die angesichts des gesellschaftlichen und technologischen Wandels erforderlich sei. Auch finanzielle Argumente werden angeführt. Zudem verlagern sich die Aufgabenverteilungen zwischen den unterschiedlichen staatlichen Ebenen bzw. verändern sich die Aufgaben selbst. Deshalb müssen sie in ihrer Erfüllung immer wieder neu ausgehandelt werden. Aus diesem Grund ist in der wissenschaftlichen Debatte auch häufig von „Funktional- und Territorialreformen“ die Rede. Kritik kommt unter anderem aus der Zivilgesellschaft, aber auch aus der Wissenschaft, die unter anderem auf gesunkene Möglichkeiten politischer und bürgerschaftlicher Partizipation hinweisen. Insgesamt besteht großer Forschungsbedarf in Bezug auf die tatsächlichen fiskalischen, infrastrukturellen, sozialen und politischen Auswirkungen dieser Territorial- und Funktionalreformen.

Quellen und weiterführende Literatur

Blesse S, Rösel F (2017) Was bringen kommunale Gebietsreformen? Kausale Evidenz zu Hoffnungen, Risiken und alternativen Instrumenten. Perspektiven der Wirtschaftspolitik 18 (4), 307-324.
Bogumil J, Kuhlmann S (Hrsg.) (2010) Kommunale Aufgabenwahrnehmung im Wandel. Kommunalisierung, Regionalisierung und Territorialreform in Deutschland und Europa. Wiesbaden.
Mattern J (2020) Dörfer nach der Gebietsreform. Die Auswirkungen der kommunalen Neuordnung auf kleine Gemeinden in Bayern (1978 bis 2008). Regensburg.
Steinführer A (2021) Lässt sich die Zahl der Dörfer in Deutschland bestimmen? Von Definitionsbemühungen, Suchwegen und unterschiedlichen Befunden. Berichte über Landwirtschaft 99 (3), 1-26.

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